„KAIROS“ - KUNST IM RADIO, IM MUSEUM, IM WEB


Wer kennt nicht das Bedürfnis in den schnelllebigen, sich widersprechenden und parallel laufenden Nachrichten- und Lebenswelten, die Zeit anzuhalten und sich zu besinnen? Was ist was? Was Glaube, Liebe, Hoffnung? Diesem Bedürfnis nach Besinnung folgt der Düsseldorfer Christoph Korn mit seinem Projekt „Kairos“ für Radio und Web. Das Thema, so formuliert es Korn selber, sei ein „Eingedenken“ des utopischen Kerns der drei großen monotheistischen Religionen Islam, Juden -und Christentum. Dieser utopische Kern formuliere sich wesentlich im Begriff der körperlichen Unversehrtheit.


Wie diesem Konzept künstlerischen Ausdruck verschaffen? Die Idee kam auf, reale Orte als Ausgangspunkt  zu nehmen, Orte, in die bis heute die unterschiedlichen heilsgeschichtlichen Ausrichtungen der drei Religionen sich eingeschrieben haben und überlagern. Es war nur konsequent, dass Korn dafür ins »Heilige Land«, nach Israel und Palästina, reisen musste. Von Oktober 2016 bis Januar 2017  war er dort.

Im Laufe seiner Reise verschob sich der Fokus der Auswahl: Neben “Heiligen Stätten” suchte er Orte auf, die signifikant für den aktuellen politischen Konflikt in der Region stehen und Orte ohne direkten politischen oder religiösen Kontext. Zwölf sind es am Ende geworden.


Im ersten Schritt nahm Korn ihre Klänge für die Tonspur auf und bat Bewohner des „Heiligen Landes“, eine Liste von Substantiven einzusprechen. Diese Wörter-Liste verweist auf die Unversehrtheit des menschlichen Körpers. Als zentrales Moment beschreibt sie das Gesicht (z. B. Ohr, Auge, Nase) und den Körper (z.B. Bein, Fuß). Vor allem das Gesicht mit dem Körper ist die Signatur dessen, an dem man das Individuelle und das Individuum „erkennen“ sollte. Es ist eine Paraphrase auf die Wendung „Ihr sollt sie daran erkennen“, und am Verstehenshorizont tauchen auf 1. Johannes 2,1-6 und Matthäus 7,16 sowie Konrad Adenauer. Aber das ist meine Interpretation.

Korn selber verweist auf den Philosophen Emmanuel Levinas und sein Verständnis des „Gesichts“, das mit dem Imperativ „Beschütze mich, verletze mich nicht!“ einhergeht.

Korns Audioarbeit bleibt aber selbst in diesem semantischen Aspekt offen. Er illustriert nicht, was wir schon wissen, sondern fordert den Rezipienten auf, sich einzulassen, zu besinnen, selber zu denken. Diese Aufforderung ist nicht ohne Anforderung an ihn.

Zusätzlich sind diese Wörter auf Hebräisch, Arabisch, Englisch und Deutsch zu hören. Korn mischt Sprache und Field Recordings zu zwölf Audios à 10 Minuten, die er, sehr traditionell, „Hörbilder“ nennt. Eingearbeitet  wurden als Zeichen des künstlerischen Zugriffs Gitarrenklänge, ihnen vorangestellt Ort, Uhrzeit und die Namen der Sprecher.


Als zweiten Schritt zur Umsetzung des Konzeptes realisiert Korn zwölf mit den Orten der Audioaufnahmen korrespondierende Videos à 10 Minuten. Er richtet dort das Objektiv gen' Himmel – und evoziert hier Konnotationen im Religiösen, Politischen und Physikalischen. Der offene Himmel wird zur offenen Metapher; die Videos zeigen aber nur die Himmel, zeigen nicht mehr.

Die Bilder der Himmel werden  - trotz ihrer filmischen Zeitachse  - künstlerisch als statuarische „Himmelsbilder“ konzipiert. Mit ihrer Sinnlichkeit ihrer Farbintensität zitieren sie die Tradition des Tafelbildes in der Moderne. Und natürlich folgen die Aufnahmen, die konzeptionell den Zufall der Tagezeiten einbinden, in der Bestimmung des Ausschnitts und ihre Reihenfolge einer strengen kompositorischen Form- und Farbgebung.

Bildende Kunst, Film, Ars Acustica – sie überschneiden sich subtil in Korns Webkunst.


„Kairos“ ist kein diskursiver Beitrag zu Israel und Palästina oder über die Religionen. Räume als Möglichkeiten der Besinnung sollen sich öffnen. Mit den Mitteln der Kunst und nicht über die Illustration eines Gedanken, einer Aussage, einer Parteilichkeit. Nicht mehr und nicht weniger. Der altgriechische Titel »Kairos« steht u.a. »für einen von Gott gegebenen Zeitpunkt, eine Chance und Gelegenheit, den göttlichen Auftrag zu erfüllen« oder für die Zeit, wenn »die Entscheidung zwischen Glaube und Unglaube« ansteht. So wird auch die Möglichkeit der Erlösung, die auch alle drei Religionen kennzeichnet, mit erzählt.

Korn selbst stellt bezeichnenderweise seiner Arbeit einen Kairos-Gedanken aus  Walter Benjamins später Schrift: „Über den Begriff der Geschichte“ voran. Dort heißt es:„Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“ Das messianische Momentum der Erlösung mag sich durch den Messias selber oder nach Walter Benjamin durch das revolutionäre Subjekt realisieren.

Aber auch diese Interpretationen sind nichts anderes als Optionen für das Verständnis von „Kairos-net.org“. Die Arbeit lässt die Himmel sehen sowie Klänge und Wörter hören. Nicht mehr und nicht weniger.


Und das Radio? Die ersten drei Audios sendet SWR2 als Hörstück in drei Teilen im linearen Programm am 13. April 2017. Bewusst wurde  zum Oster- und Pessachfest der Donnerstag als „Eröffnungstag“ bestimmt. In den kommenden Wochen werden jeweils donnerstags im Hörspiel-Studio fortlaufend die weiteren 9 Teile ausgestrahlt bis Juni 2017, so sich Sendeplatzmöglichkeiten ergeben. Manche Audios dürften deshalb nur im Netz zu hören sein. Diese programmatische Entscheidung spiegelt, wie Radiokunst als Medienkunst auf der linearen Zeitachse heute im „traditionellen“ Radio präsent ist, sein kann – und wie sie im Verschwinden doch anwesend bleibt. Die Internetseite „Kairos-net.org“ führt alle Audios zusammen - und die ihnen zugeordneten Videos. Online steht Korns Arbeit auf unbestimmte Zeit. Die formale Teileanordnung zur Sendung (und die Anzahl der ausgewählten Orte) folgt einer Logik des zum Projekt gehörenden Verweissystems, das die Primzahlen 3 und 1 sowie die Zahl 12 anbieten.


Das Janco-Dada Museum bat Korn für den Heiligen Abend 2016, »Kairos« als Klanginstallation vorzustellen und hat diese Arbeit in seine internationale Sammlung aufgenommen. Der Kunstproduzent SWR findet Einlass ins Museum.


Die Stadt Düsseldorf sicherte über ein Künstlerstipendium den Aufenthalt in Israel, die Goethe-Institute von Tel Aviv wie Ramallah unterstützten vor Ort. Sie öffneten – zuerst misstrauisch verschlossen gebliebene – Türen für Korns Recherche und erleichterte, die Menschen zu finden, die die Texte einsprachen: israelische Araber, israelische Juden, Palästinenser aus der Westbank und ein deutscher Mönch aus Jerusalem. Einer von Ihnen ist Zivi Lazar. Er fuhr 40 Jahre zur See. Seine Eltern mussten aus Österreich vor den Nazis fliehen. Sein Vater erlag den Verletzungen aus dem „israelischen Unabhängigkeitskrieg“ , der mit der Gründung des Staates Israel 1949 endete. Lazars Photo auf der Startseite der Website steht stellvertretend für die Menschen, die sich hinter den Namen der Sprecher verbergen. Das Photo ist eindringlich. Zivi Lazars Biographie sowie die der anderen Sprecher ist jedoch nirgendwo notiert. Es sei nur hier auf sie hingewiesen als eine der Geschichten, die nicht auftauchen, verschwunden sind und die sich hinter jedem dieser Namen verbergen. Diese Entscheidung leitet sich ab aus dem streng formalen wie zugleich sinnlichen Konzept von Korns Arbeit.


Die Hörspielabteilung des Südwestrundfunks produziert immer wieder Kunst an der Grenzlinie von Radio, Video, Installation und Web. Christoph Korn überträgt die Überschneidungen der Gattungen und Formen sowie ihre institutionellen Aneignungen in eine eigenständige kreative Sprache. 2014 realisierte Korn für das SWR2-Hörspiel das intermediale Projekt „eingedenken.de“. Thematischer Ausgangspunkt ist Walter Benjamins Text „Geschichtsphilosophische Thesen“ und sein Fluchtweg vor den Nazis über die Pyrenäen, der mit dem Selbstmord aus Verzweiflung endete. Die Arbeit ist im Internet ebenfalls als Dauerinstallation präsent.

So vernetzt sich Korns „Kairos-net.org“ mit seiner ästhetischen Programmatik einer multimedialen Konzeptkunst, die sich einer paradoxen Ästhetik des Verschwindens verpflichtet hat und diesen Prozess an konkreten, realen Objekten zum Ausdruck bringt. Es ist vielleicht das „Unaussprechliche“, das sich hier „zeigt“.


Manfred Hess